Zwei Arten von Situationen
Regel 1. Wenn es einem [=einem/r, allgemeines Geschlecht] schlecht geht, und man kriegt noch eins drauf, dann geht es einem noch schlechter. Daraus folgt: Geht es jemandem schlecht, dann sei freundlich.
Regel 2. Es gibt Situationen, in denen du sicher bist, und es gibt Situationen, in denen du in Gefahr bist. (Da wir in unsicheren Zeiten leben, haben die meisten Leute gelernt, das zu unterscheiden. Wenn sie zu sehr in Gefahr sind, können sie aber nicht gleichzeitig gut darüber reden (darüber später mehr). Daraus folgt: Wenn jemand signalisiert, daß er [er/sie] in Gefahr ist – zunächst mal: Glaube ihm. (Du kannst es nicht besser beurteilen als er.) Er wird in größere Gefahr geraten, wenn du ihm auch noch seine Wahrnehmung in Abrede stellst.
Ich vergröbere jetzt mal. (Das empfiehlt sich besonders, wenn jemand etwas schnell verstehen soll. Zum Beispiel, wer nach Schema B funktioniert.) Es gibt Schema A und Schema B. Schema A ist das Verhalten, das wir zeigen, wenn wir in Sicherheit sind (oder es glauben). Die Muskeln sind locker, der Atem geht ruhig, man nimmt sich Zeit für die Wahrnehmung, lernt dies und jenes. Schema B ist dagegen angemessen für Gefahren: Anspannung, Aufregung, schneller Atem, Bereitschaft zum Wahrnehmen von Gefahren und deshalb schnelle Reaktion auf Gefahren. Gelernt wir dabei nicht viel, außer die noch schnellere Reaktion auf Gefahren. Das Verhalten ist dabei eingeschränkt auf das, was man bei Gefahr braucht: Erkennen des Feindes, seine Abwehr und die eigene Rettung.
Was geschieht nun, wenn jemand sich in Gefahr glaubt, sich also nach Schema B verhält? Richtig: Er wird als erstes feststellen, ob du Freund oder Feind bist. Wenn du dich feindlich verhälst, wird er dich folglich bekämpfen. Beispiel: Jemand sieht dich scheel an. (Er fragt sich, ob du ein Feind bist.) Reagierst du darauf mit Mißtrauen, dann bist du in Schema B verfallen, und du bist tatsächlich ein Feind. Er wird dich also bekämpfen. Dann wirst du ihn auch bekämpfen. Und schon ist das schönste Tänzchen im Gange: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
In der Psychiatrie ist das sehr gut zu beobachten. Dort wimmelt es von Leuten, die sich nach Schema B verhalten. – Herr Meier wird eingeliefert. Er hat hohe Muskelspannung, ist aufgeregt, und er ist misstrauisch. Der Psychiater weiß sofort: Dies ist ein Mensch, der sich falsch verhält, unangepasst nämlich (an die Wahrnehmung des Psychiaters, der doch weiß, daß er selbst sich für einen netten Menschen hält). Statt dessen ist Herr Meier nur an seine eigene Wahrnehmung angepasst, die ihm sagt, daß der Psychiater meint, Recht zu haben, und glaubt, Herr Meier habe folglich Unrecht, habe also eine falsche Wahrnehmung. Dadurch fühlt Herr Meier sich angegriffen. Beide sind also in Schema B verfallen. Gewinnen wird, wer stärker ist, zum Beispiel die Institution auf seiner Seite hat. Wahrscheinlich der Psychiater.
Wie kommt man nun von A nach B und von B nach A?
Allen gut bekannt, weil reichlich geübt, ist der Weg von A nach B. Das geht schneller, als man Muh sagen kann. Es reicht schon, jemand zu widersprechen, sich auffällig zu benehmen, und schon ist man von Feinden umgeben. Von B nach A ist es schwieriger. Weil es heutzutage hierzulande zu wenig Sicherheit gibt, ist diese Kunst nur noch den Psychochotherapeuten [=/innen] und den Liebenden bekannt, beziehungsweise den Leuten, die sich so zu verhalten wissen. (Darum haben die meisten Europäer verkrampfte Schultern, und sie tragen Brillen, damit sie ihre Feinde besser erkennen können.) (Die Japaner auch.) Will man jemand von B nach A bringen, dann ist es am sinnvollsten, erstmal selbst nach A zu gehen. Das heißt: Locker lassen (auch wenn man nicht alles versteht), zuhören, zusehen, und: dann schließlich auch noch eine Kunst, von der ich jetzt erzählen will. Sie heißt: Prozessbeschreibung, oder kurz: Aua. Häh? Ja, aua. Es ist die Kunst, „aua“ zu sagen, wenn es irgendwo weh tut. Oder „Das vertrage ich nicht“, „Damit komme ich nicht klar“, „Das weiß ich nicht“, „Das verstehe ich nicht“. Noch edler: „Ich bin müde“, „Ich bin ungeduldig“, „Ich habe Angst“. Oder noch schärfer: „Ich habe schlecht geschlafen, und jetzt bin ich müde“, „Erst hat mein Chef mich angemotzt, jetzt machen Sie auch noch weiter, ich kann nicht mehr“, „Hören Sie auf, mit der Faust vor meiner Nase herumzufuchteln, das regt mich auf“…
Das nennt man Prozessbeschreibung. Die Kunst, einfach nur das zu beschreiben, was gerade (für dich) passiert. Der Effekt ist: Klarheit. Wir werden es gleich noch unter dem Namen „Ausweg 4“ kennenlernen.
Angst (zum ersten)
Angst heißt Enge. Das heißt, die Situation wird als eng erlebt, als ausweglos, die Möglichkeiten sind eingeschränkt, und es gibt kaum etwas, das man tun kann. Kaum. Oder doch: Es gibt immer drei oder vier Auswege. Nur sind sie meist verboten, von gut meinenden Eltern. („Sei nicht unhöflich!“, „Halt den Mund, wenn du mit Erwachsenen redest!“, „Antworte, wenn ich dich zur Rede stelle!“, „Sei leise!“, „Lüge nicht!“, „Komm her, wenn ich dich bestrafen will!“ … (Wir kommen hier schon in die hohe Schule des Verrückmachens.))
Ausweg 1: Macht kaputt, was euch kaputt macht! Der Lehrer kriegt auf die Nase. Die Freundin auch. (Weil sie gegen mich ist.) Der Chef, ein Scheusal übrigens, kriegt was zu hören. (Er reagiert unwillig. Er ist eben ein Scheusal.) Wir erraten leicht, dass dieses Verfahren uns schon im Urwald recht erfolgreich begleitet hat. „Wenn es mal regnete, und es begegnete, ihnen eine Rasse, ob braune oder blasse, dann machten sie daraus ihr Beefsteak Tatar.“ Kam ein Tier des Wegs, und es sah bedrohlich aus oder schmackhaft, dann immer drauf.
Ausweg 2: Was aber, wenn das Tier zu stark war? Oder der Mitmensch ein Polizist, oder einfach größer? Ja, dann galt es, die Beine in die Hand und Reißaus zu nehmen. So ist es etwa möglich, eine Stelle zu kündigen, oder auszuwandern, oder sich scheiden zu lassen. Ist das nicht möglich, dann tritt Ausweg 1 in Kraft: Die Ehefrau wird abgemurkst, der Polizist wird mit Steinen beschmissen, dem Kind wird „der Willen gebrochen“. Alles das ist verboten, wird aber trotzdem getan. Schließlich wird sich auch ein Kater, den du zu viel haust, zu wehren wissen.
Ausweg 3: Nehmen wir aber mal an, das Tier ist zu groß. Oder zu kräftig. Polizisten hauen ist auch verboten. „Spucke nicht aufs Kanapee, tu nie deiner Freundin weh“, das Kind kann nicht von den Eltern weg rennen, weil es sonst nirgendwo hin kann, und wenn ich vor dem Wildschwein weg renne, kommt es hinterher. Was mache ich also? Erraten: nichts. Allenfalls hinter dem Baum hocken, Luft anhalten, still sein. Warten, bis alles vorbei ist, bis der Angreifer mich vergessen hat. Mediziner wissen, dass noch mehr passiert: Weil der ganze schöne Alarm, mit Muskelspannung und Feind beobachten, für die Katz ist, spielt der Körper verrückt. Die Muskeln werden schlaff, das Blut, vorher aus dem Magen in die Muskeln geholt, will jetzt wieder zurück, das Gesicht wird blass statt rot, und schließlich macht man sich in die Hosen. Vor Angst. Das sind alles sehr sinnvolle Prozesse. Ausweg 3 ist also keine Verfehlung, sondern wie Ausweg 1 und 2 ein biologisch vorgegebenes Verhaltensmuster. Weil wir schlau sind, haben wir das noch etwas vervollkommnet: Wir haben gelernt, aus dem Fenster zu springen, mit Bomben zu schmeißen, zu foltern, und schließlich die größte kulturelle Leistung von allen: mit Angst vor der Glotze zu sitzen und Bier zu trinken.
Leicht zu erraten, dass Ausweg 1 bis 3 zum Verhaltensschema B gehören. Außerdem ist es auf keinem der drei Auswege nötig, sich zu erklären. Schlag ich jemandem den Schädel ein, dann sind Erklärungen unsinnig, allenfalls Beschimpfungen. (Die sollen nur deutlich machen, daß wir uns im Lande B befinden.) Auf der Flucht bin ich niemandem eine Erklärung schuldig, höchstens eine Rechtfertigung: Der Feind ist bös. Und wer Angst hat, kriegt bekanntlich das Maul nicht mehr auf.
Hier nun ereignet sich das Wunder des Ausweges 4, das zum Verhaltensschema A gehört. Wer eben noch im schönsten Schema B steckte, der wird fahnenflüchtig, wenn er mit seinem Feind redet. (Wirklich redet, nicht nur anklagt.) Er zieht sich gewissermaßen am eigenen Schopf aus dem Sumpf. („Liebet eure Feinde“, übrigens eine alte christliche Idee. Leider kann man das auch missbrauchen: Ich steck dich in den Sack, aber du sollst mich lieben.) So wechselt man die Fronten, wird vom Feind zum Freund. Der Andere wird das natürlich nicht so schnell glauben, aber einen Versuch ist es allemal wert.
Wie macht man das? Nun, Beteuerungen darüber, daß man es gut meint, reichen nicht, weil der Andere weiß, daß das ein fieser Trick ist. Am besten, man sagt etwas, wo der Andere zustimmen kann. „Schönes Wetter heute“? Zu harmlos. „Äh – können wir mal eben aufhören, uns zu kloppen?“ Schon besser. Wie wärs mit „Wir streiten uns leider dauernd. Ich hätte gern mal eine Pause. Gehen wir zusammen einen Kaffe trinken und machen dann weiter?“ Hm, naja, der Kreativität sind da keine Grenzen gesetzt. Wir sind ja im Schema A, wo alles erlaubt ist. Am besten kommt es, wenn wir nur von Offensichtlichem reden. Zum Beispiel: „Ich will nicht mehr streiten“, „Eigentlich will ich dein Freund sein, aber ich gerate immer wieder mit dir aneinander, und dann werde ich richtig wütend“, oder „Immer wenn du mich einen Idioten nennst, dann sehe ich dich als Feind und behandle dich auch so“.
Wenn die Kunst gelingt, nur die Situation – jetzt, hier – zu beschreiben und die Wertungen (=Verurteilungen des Anderen) draußen zu lassen, dann nehme ich den Druck vom Anderen, und er hat die Wahl: zwischen Schema A und Schema B.
Leichtherzig zum Schema A wechseln wird er nicht. Er hat zu gut geübt. Sein Vertrauen zu gewinnen, ist schwere Arbeit. Davon später mehr.
Ein bisschen Filosofie
Der Leser wird bemerken, dass ich hier keine Ausdrücke wie „Neurose“ oder „Psychose“ verwende. Außer in Gutachten. (Dazu bin ich verpflichtet, wenn ich der Kassenanerkennung hinterher hecheln will.)
Warum? Hauptwörter sind in den europäischen Sprachen entweder Prozessbeschreibungen (z.B. „das Aufessen“, „das Anzünden“), oder sie sind geronnene Prozessbeschreibungen („das Essen“, „das Anbrennende“), d.h. von der Tätigkeit geht das Etikett auf den Gegenstand der Tätigkeit über, oder die Bezeichnung sieht ganz von der Tätigkeit ab und unterstellt („hypostasiert“) die Unabhängigkeit der Gegenstandes. Das letzte ist dann ein Begriff, der sich in Verhaltensschema B anbietet. Weil die eigene Tätigkeit nicht hinterfragt werden soll, ist das von einer Person geschlachtete Schwein jetzt ein Fleisch, sauber verpackt in der Tiefkühltruhe, ohne Blutspuren. Der Brandherd kommt ohne Brandstifter aus, und der in Verhaltensschema B verstrickte Mensch ist dann eben ein Neurotiker, der eine Neurose hat wie andere einen Pickel. Dieser Mensch scheint unabhängig von der Person zu sein, auf die er reagiert, zum Beispiel mit Panik.
Wer eine Psychose hat, ist demnach nicht einfach ein Verrückter. Denn der verrückte Mensch – Prozessbeschreibung! – legt ja zumindest die Vermutung nahe, daß es einen anderen Menschen gibt, der ihn verrückt, verschoben hat, oder der nach der anderen Seite hin verrückt ist: die Mutter, die das Kind ablehnt, das Kind, das sich abgelehnt fühlt, und der Psychiater, der mit dem Ablehnen weitermacht, alle sind sie verrückt. Alle sind sie in ihrem Verhaltensmuster gefangen. Schema B nämlich. In der Hypostasierung – Unterstellung – hat nun das Kind eine Psychose, also ist misstrauisch, obwohl doch der Psychiater nur sein Bestes will. Es kann nicht den ersten Schritt machen und dem griesgrämigen Mann seine Geschichte erzählen, und der griesgrämige Mann kann es sich einfach machen und sagen, der Bub ist schizofren. Danach gibt’s eine Pille.
Angst (zum zweiten, mit etwas anderen Worten)
Die meisten Patienten kommen in Therapie, weil sie nicht mit ihrer Angst umgehen können (problemorientiert, im Gegensatz zu denen, bei denen eine Entscheidungssituation im Vordergrund steht). Oft sind ihnen ihre eigenen Reaktionen nicht verständlich, sie verurteilen sich dafür und verschlimmern so ihre Situation. Für diese Patienten ist es oft eine erste Erleichterung, wenn sie hören, daß Angst ein sinnvoller Prozess ist.
Angst wovor? Ursprünglich ist Angst eine Antwort auf eine reale (wahrgenommene) Gefahr. Sie gehört zu unserer biologischen Grundausstattung. Kraftreserven werden mobilisiert: Pulsfrequenz, Atmung, Muskeltonus werden gesteigert, das Blut wird in die Muskeln geleitet und vom Verdauungstrakt abgezogen. Was dann mit dieser Aktionsbereitschaft geschieht, ist durch Umwelterfahrungen mitgeprägt. Freud unterschied Realangst und Triebangst. Die Triebangst ist bereits ein Zeichen der Spaltung: Das eigene Bedürfnis wird so erlebt, als ob es eine äußere Bedrohung wäre. Der Mensch hat teilweise den Standpunkt der Umwelt übernommen.
Wie entsteht Angst? Es gibt zwei sehr einfache Reaktionen auf Gefahren: Angriff und Flucht. Die Angst wird hier in der Regel nicht wahrgenommen. Wenn beides nicht möglich ist (zu gefährlich, verboten), dann ist eine dritte Wahl der Totstellreflex: Die Aktionsbereitschaft bleibt bestehen, aber die Bewegung wird blockiert. Bleibt die Bedrohung bestehen, dann bleibt auch die Blockierung. Jetzt wird die Angst zum Dauerzustand und zum Gegenstand der Aufmerksamkeit. Angriff kann konstruktiv (Wut) oder destruktiv (Haß) sein. Wut will das Hindernis verändern, Haß will es zerstören. Zielgehemmte Aggression kann sich gegen die eigene Person richten. Flucht dient dazu, die gefährliche Situation zu verlassen, aber sie kann auch zum Versuch werden, nur den Reiz zu vermeiden (z.B. einen Ort, ein Thema). Der Schreck oder Totstellreflex kann zu sichtbaren Körper-Haltungen führen.
Wie fühlt sich Angst an? Sobald Angst zum Thema wird, ist die Blockierung eingetreten, und die Schreckreflex-Symptome werden als zusätzliche Bedrohung erlebt: Verkrampfung, Atemblockade, Schweiß, Mundtrockenheit, schneller Puls und hoher Blutdruck. Bei großer Angst setzt eine Gegenreaktion ein (Angstparalyse). Weil die Aufmerksamkeit dadurch geteilt wird, bleiben für neue Situationen nur sehr einfache Reaktionsmöglichkeiten: selektive Wahrnehmung, Reaktionsmuster („Agieren“, „Game“), Schwarz-weiß-Denken, dazu erhöhte Angstbereitschaft.
Wie wird Angst abgebaut? Der Therapeut kann die aktuelle Situation entschärfen. Dadurch wird ein Teil der gewohnten Angstbereitschaft unnötig, die Schrecksymptome werden gemildert. Mit der frei werdenden Aufmerksamkeit kann ein viertes Verhaltensmuster unterstützt werden: Prozesswahrnehmung, d.h. zunächst Nennen von Tatsachen, dann Akzeptieren der eigenen und fremden Bedürfnisse und Auflösen der angsterregenden Situationen – zunächst durch absichtliches Durchprobieren der vorhandenen Verhaltensmuster: Das „Game“ wird zum „Play“.
Dieses Liedchen ist schon etwas älter. Ich höre es immer wieder gern.
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